Ambra

Ambra heute – Sommerurlaub 2006

                                             Ambra

Nach einer komplikationslosen Schwangerschaft kam Ambra am 17.01.2002 zur Welt. Ambra trank gut, schlief viel und weinte wenig, so dass uns alle um unser liebes Baby beneideten. Wir waren sehr glücklich. Sie nahm zeitgerecht sozialen Kontakt auf und schon bald erfreuten wir uns jeden Tag an ihrem strahlenden Lächeln.

Im Sommer 2002 fuhren wir zum 1. Mal zu viert in den Urlaub. Ambra begann mit Versuchen, sich auf den Bauch drehen zu wollen, das Greifen klappte schon und das Plappern auch. Wir hatten eine schöne Zeit.

Als Ambra im Herbst fast 9 Monate alt war, gingen wir mit ihr wegen einer Erkältung zum Kinderarzt. Das war der Tag, an dem unser Schicksal uns einzuholen begann, sozusagen. Mehr oder weniger taktvoll wies uns der Kinderarzt darauf hin, unser Kind sei „total schlaff“ und könne ja nicht einmal sitzen. Gegen Ambras „Schlaffheit“ verschrieb der Kinderarzt Krankengymnastik nach Vojta und so machten wir kurze Zeit später unsere ersten Erfahrungen damit. Ambra schrie fürchterlich!


Nach einigen Sitzungen zeigte die Krankengymnastik erste Erfolge. Zwei Tage vor Weihnachten gelang Ambra die erste Drehung auf den Bauch. Danach meinte sie aber, nun sei es genug und fing erst im Januar, kurz vor ihrem 1. Geburtstag, wieder mit ihren Übungen an.

Unterdessen war uns im Grunde genommen klar geworden, dass Ambras Entwicklung keinen normalen Verlauf nahm. Unser damaliger Kinderarzt erwies sich als wenig hilfreich. Es folgte eine Reihe halbherziger Untersuchungen, das Äußern von Vermutungen – aber es passierte nicht wirklich etwas.
Im Februar dann verlor ich endgültig die Geduld; mittlerweile nagten meine Sorgen in erheblichem Maße an mir. Ich verlangte für Ambra eine Einweisung in die Kinderklinik, da ich endlich wissen wollte, was ihr fehlte. Im März 2003 - Ambra war inzwischen fast 14 Monate alt -, verbrachten wir 4 Tage in der Klinik. Dort wurden alle nur erdenklichen Untersuchungen vorgenommen, die im Grossen und Ganzen aber ergebnislos blieben.

Bei einer abschließenden Ultraschalluntersuchung wurde auch das Köpfchen untersucht. Dem anscheinend erfahrenen Spezialisten fiel auf, dass hier etwas nicht stimmte. Ein MRT am folgenden Tag brachte die Gewissheit: Balkenmangel, auch Corpus Callosum Agenesie genannt.
In der Klinik jedoch schwächte man ab: Balkenmangel sei in der Regel „nicht so schlimm“, unser Kind könne sich trotzdem ganz normal entwickeln.
Vielleicht hat man damals vergessen, uns die weiteren Befunde mitzuteilen – davon erfuhren wir erst Monate später, nachdem wir endlich den ausführlichen Bericht der Klinik einsehen konnten. Die Nebendiagnosen sind Kleinhirnunter-wurmhypoplasie, Hirnreifungsverzögerung sowie Myelinisierungsverzögerung und tragen nicht unerheblich zu Ambras Entwicklungsverzögerung bei.

Mehr oder weniger erleichtert verließen wir die Klinik und fuhren mit der Krankengymnastik fort. Da man uns geraten hatte, Ambra auch Frühförderung angedeihen zu lassen, setzten wir uns kurze Zeit später mit der Lebenshilfe in Verbindung und bald darauf kam eine sehr liebe und einfühlsame Frühförderin einmal wöchentlich zu uns nach Hause.

Im Juni gingen wir ein weiteres Mal zu unserem Kinderarzt, da wir Ambra vierteljährlich vorstellen sollten. Es sollte unser letzter Besuch bei diesem Arzt werden…
Nachdem ich stolz und froh auf die gute Entwicklung der letzten Monate hingewiesen hatte, meinte der Arzt nur lapidar, ich wisse sicher selbst am besten, welche Fortschritte Ambra gemacht hätte, aber eines könne er mir heute schon sagen: „Ein normales Leben wird dieses Kind niemals führen können“.

Diese Aussage, unvermittelt, taktlos und in meinen Augen auch grundlos, gab mir den sprichwörtlichen Rest. Den weiteren Verlauf der Untersuchung bekam ich nicht mehr richtig mit, aber draußen – und ich weiß noch wie heute, es war ein strahlend schöner, warmer Tag – brach ich zusammen, hielt mein Kind auf dem Arm und konnte nicht mehr aufhören, zu weinen.

Es schien, als hätte unsere Welt aufgehört, sich zu drehen – hatten wir jetzt ein „behindertes“ Kind? Wie würde unser Leben weitergehen?
Meine Tränen versiegten auch bis zum Abend nicht, aber über Nacht wurde aus der Trauer auch ein Stück Wut. Wie auch schon in den Wochen und Monaten davor erwies sich mein Mann als echter Halt. Seine bedingungslose Liebe, vor allem auch zu unserer Ambra, ließ vieles einfacher werden.
Am nächsten Tag setzte ich mich hin und schrieb diesem so wenig einfühlsamen Kinderarzt einen Brief. Alles, was ich mich in den vergangenen Monaten nicht getraut hatte, zu sagen, kam dort zur Sprache. Ich schickte den Brief sogar ab! Und obwohl mein Mann meinte, dieser Brief würde ohnehin nur im Papierkorb landen, war mir von da an klar, dass wir kämpfen würden.
Übrigens hat sich der Kinderarzt einige Tage später mit einer kurzen Zeile für sein Verhalten entschuldigt – aber wieder gesehen hat er uns trotzdem nicht.

Irgendwie markierte dieser Besuch dennoch eine Wende, für die ich dem Kinderarzt eigentlich fast dankbar sein müsste. Das ist mir aber erst heute klar geworden - damals war ich nur traurig, wütend und verletzt. Auch wenn ich mich weiterhin schwer damit tat, dem Thema „Behinderung“ ins Auge sehen zu müssen, gab es mir doch einen Ansporn. Ich vertiefte meine Recherche zum Thema „Balkenmangel“ , schloss mich zwei amerikanischen Selbsthilfegruppen an, fand über das Internet Kontakt zu betroffenen Familien, mit denen ich bald in regem Austausch stand und lernte über die Frühförderung eine andere Mutter mit einem „Balkenmangel-Kind“ kennen.

Am 1. November 2003 folgte ich dem amerikanischen Beispiel und gründete eine eigene Internet-Selbsthilfegruppe, die „Balkenmangel-Kinder“.
Nach einer doch recht kurzen Anlaufzeit stieg die Zahl der Mitglieder beträchtlich an und eine Mailflut, die bis heute anhält, setzte ein. Bald wurde ein erstes Treffen geplant, dem weitere folgten. Viele Gruppenmitglieder ergriffen die Gelegenheit, andere, die in der Nähe und auch in der Ferne wohnen, zu besuchen.

Ambras Entwicklung ging sehr langsam, aber dennoch stetig weiter.  Bald schaffte sie es, sich aus der Bauchlage zurück auf den Rücken zu drehen und von nun an kullerte sie durch die ganze Wohnung. Im März 2004 begann sie schließlich zu krabbeln. Ein Meilenstein!
Ende August 2005 wurde Ambra in eine heilpädagogische Gruppe einer Bielefelder KiTa aufgenommen. Sie hat sich von Anfang an dort sehr wohl gefühlt und hat jede Menge Spaß. Ihre Entwicklung machte auf einmal Riesensprünge und seit Dezember 2005 kann sie sogar laufen. Aus einigen wenigen Schritten wurden binnen kurzer Zeit richtig lange Strecken. Für uns noch immer ein Wunder! Sie kann auch ein paar Worte sprechen und hat vor kurzem in eine integrative Gruppe ihrer KiTa gewechselt.

So schwer es am Anfang auch gewesen ist, zu akzeptieren, dass unser Kind behindert ist und bleiben wird, so froh sind wir heute, dass wir sie haben. Ambra ist ein sehr fröhliches, aufgeschlossenes Kind, das uns täglich mit seiner guten Laune ansteckt. Sie wird von allen geliebt, und ihrem Lächeln kann keiner widerstehen!
Wir haben verstanden, dass Ambra kein „anderes Kind“ ist, als das kleine süße Mädchen, das uns geboren wurde. Wir glauben fest daran, dass sie ihren Weg machen wird!

Zum Schluss möchte ich noch sagen, wie sehr mir persönlich der Kontakt zu anderen Eltern geholfen hat. Ich durfte viele wertvolle Menschen und ihre Kinder kennen lernen und habe neue, wunderbare Freundschaften geschlossen. Die „Balkenmangel-Kinder“ sind so etwas wie mein „virtuelles Baby“ geworden und wenn diese Liste nur ein klein wenig dazu beitragen konnte und kann, dass sich viele mit ihren Problemen und Sorgen nicht mehr so allein fühlen, dann ist die Saat aufgegangen – und darüber freue ich mich von Herzen!

aufgeschrieben von Anja im Juni 2006